DISPLACED MEMORIES

Erinnerungsräume - Zeugnisse einer Vernichtung
Till Leeser zeigt Fotographien, die die Abwesenheit der Shoah in das Zentrum rücken. Es ist eine solch extreme Abwesenheit des eigentlichen Geschehens, der Erniedrigung der Menschen, ihrer Entwürdigung und Ermordung, dass dem Betrachter regelrecht ein Blick abgefordert wird, der - so paradox das ist - versuchsweise das Fehlende ergänzt und gerade damit Möglichkeiten einer Annäherung an die Vernichtung in sich trägt.
Nicht am abgebildeten Objekt, sondern in der Interferenz zwischen Bild und Betrachter bildet sich Gedächtnis, Erinnerung gar, indem der Blickende in diese Leerstellen sich hineinziehen lässt und gleichzeitig, als eine Art Gegenbewegung, Wissensbestände in Form von anderen Bildern, Büchern, Erzählungen, historischen Daten, Erfahrungen oder eigenen Erinnerungen aufruft und untereinander in Beziehung setzt. Das Gedächtnis ist dann nicht Speicher, Behältnis oder gesicherter Aufbewahrungsort, es ist vielmehr ein immerzu veränderbarer Erinnerungsraum innerhalb der Subjekte.
Mit solcher Erinnerungsarbeit, die sich gründet auf einen bewussten Verzicht von Eindeutigkeit (Unschärfe, Farben, Wahl der Objekte), die die Ausschnitte oder Fragmente von Mauern, Wänden, Decken, Gebäuden aus der Gegenwart heraus technisch überschreibt und verfremdet, die neben Vieldeutigkeit auch eine gewisse Orientierungslosigkeit erzeugt ~ im übrigen als eine entschiedene Gegenposition zu dem auf allen Ebenen totalitären Verhalten der Nationalsozialisten zu lesen -, die auf das, was war, durch das, was nicht ist verweist, mit solcher Erinnerungsarbeit also, steht Till Leeser nicht allein da. Es gibt offensichtliche Korrespondenzen in der Gegenwartsliteratur - Raymond Federman wäre zuerst zu nennen -und verstecktere in der Literatur davor. Und weiter könnte man hinzufügen, dass die Bilder von Till Leeser eine praktisch-künstlerische Umsetzung dessen sind, was die Wissenschaften der unterschiedlichsten Disziplinen allmählich herausgefunden haben: Das Erinnerung kein Abbild der Wirklichkeit, dass sie nicht ein Abrufen oder ein unverändertes Wiederheraufholen des Gewesenen ist. Ob nun Neurologen wie Shacter, Kulturwissenschaftler wie Jan Assmann, Sozialpsychologen wie Harald Welzer, alle zeigen in ihren Disziplinen, dass Erinnerung rekonstruktiv verfährt, dass das Gedächtnis weniger als ein Speicher als ein Wandlungskontinuum zu denken ist, von der jeweiligen Gegenwart aus bestimmt. Jede neue Erinnerung, jede neue Einschreibung verändert die bestehenden.

Unsere Erinnerungen sind nicht identisch mit der Wirklichkeit, sie sind ein immer neuer Zugriff (Fassung) auf diese aus der Gegenwart heraus – das gilt auch für  traumatische Erfahrungen.
Sie hängen ab von bestimmten Gesetzmäßigkeiten, ob das nun neurologische sind oder lebensweltliche, historische, kulturelle oder sprachliche.
Wir können nun als Lesende und als Betrachtende durch genaue Lektüre die Anteile
der jeweiligen Gegenwart an der  Vergangenheit auszumachen fähig werden und erkennen, wie Erinnern für das Erinnerte verantwortlich ist, wie die Gegenwart für die Vergangenheit.
Lektüre oder auch Betrachtung von Fotografien kann somit – unabhängig davon, dass Sprechen und Denken über die Shoah immer ein Totengedenken ist – eine seelische Beweglichkeit schaffen, sie kann helfen, unser trügerisch lineares Zeitbewusstsein, das ein Ereignis an das andere fügt, zu einem Tableau zu weiten.
Mit zunehmender Individualisierung und auch Isolierung bei gleichzeitig immer undurchschaubarer werdender Vernetzung auf gesellschaftlicher Ebene ist die Bildung von „historischem Wissen“ - wie Bodo von Plato das einmal genannt hat – eines Bewusstseins für die eigene Verantwortung für die Geschichte und die Beteiligung and der Vergangenheit, unverzichtbar.
Vergangenheit, die immer wieder neu aus der Gegenwart gefasst wird, bleibt so nicht tot und abgeschlossen, sondern kann aus der Gegenwart heraus für eine Zukunft gestaltet werden.

Dr.Ariane Eichenberg


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