DISPLACED MEMORIES

Vorwort

Es gibt leichtere Themen, denen man sich fotografisch stellen kann. Das immer noch beunruhigende und deprimierende Gefühl, das einen angesichts der unaussprechlichen Gräuel der NS-Zeit überkommt, lässt sich schwer in Wort und Bild fassen. In einem Artikel von Jürgen Habermas, der im Rahmen der Diskussion um das Holocaust-Mahnmal von Peter Eisenman in der „ZEIT“ erschien, schrieb der Frankfurter Philosoph: „Eine Darstellung des Zivilisationsbruchs mit den Mitteln der Kunst ist schwierig, vielleicht unmöglich. Aber für den Akt der hier seinen symbolischen Ausdruck sucht, gibt es kein besseres Medium als das der bildenden Kunst – deren spröde Verschlossenheit noch am ehesten vor Peinlichkeiten, Verharmlosungen und der Falle falscher Abstraktion bewahrt.“
Der spanische Schriftsteller Jorge Semprun, der selber das KZ Buchenwald überlebte, setzte in seinen Texten auf ein »produktives Vergessen« durch das Überdauern eines Stärkeren, das ein zwischenzeitliches Verschwinden der Erinnerungszeichen, ihre Archäologisierung notwendig befördert. Aber die ehemaligen Vernichtungslager sind da und mit ihnen die trostlose Gewissheit des größten Menschheitsverbrechens der Geschichte. Im Epilog zu Dirk Reinartz` intensiver Schwarzweiß-Dokumentation »Totenstill« schreibt Christian Graf von Krockow: „Die Stille der einstigen Lager und heutigen Gedenkstätten, die Totenstille: Sofern wir sie hören, geraten wir vor die letzte und bedrängende Frage: kann wiederkehren, was einmal war?“
Diese besondere Stille und Atmosphäre ist es, die einen umfängt und eine aufgeladene emotionale Präsenz erzeugt, der man sich nicht entziehen kann. Als Nichtbetroffene bekommen wir eine vage und erschreckende Ahnung von der Dimension und Systematik des Holocaust.
Fotografen, die in dieser dunklen Zeit der Geschichte lebten, hatten es leicht, das Grauen authentisch zu bezeugen. Als George Rodger, der Mitbegründer der legendären Fotografenagentur Magnum, die Leichenberge in Bergen-Belsen und Margaret Bourke-White das KZ Buchenwald fotografierten, wurde die entsetzte Weltöffentlichkeit erstmalig mit dem Ausmaß der Shoah konfrontiert. Und selbst diese Bilder können nur wenig davon vermitteln, was tatsächlich in den Lagern geschah und was das wahre Ausmaß war. Margaret Bourke-White sagte, dass die Kamera eine Erleichterung gewesen sei, weil sie eine Barriere geschaffen habe zu dem Horror, dessen sie in Buchenwald ansichtig wurde. Die damals aufgenommenen Fotografien von Leid und Elend sind unauslöschlicher Teil unserer kollektiven Erinnerung geworden, eine für alle Zeit bestehende Mahnung, die die Sehnsucht nach Normalität unmöglich macht.
Jüngere fotografische Auseinandersetzungen mit dem Thema, wie etwa die bemerkenswert unprätentiösen und mit bewegenden Textquellen gepaarten Farbaufnahmen aus Auschwitz-Birkenau von Andreas Magdanz, bedienen sich zumeist der sachlichen, dokumentarischen Ebene des Mediums.
Till Leeser hat sich in seiner Arbeit »Displaced Memories« für einen bewusst anderen Weg entschieden. Er ersetzt Bildschärfe durch Unschärfe, Eindeutigkeit durch verschleierte Andeutung. Er sagt selbst, dass das Auge im unscharfen Bild keinen Frieden findet. Der Aspekt des visuellen Schwimmens erzeugt Verunsicherung, einen unabschließbaren Prozess, der mit der eigenen Befangenheit korrespondiert. Es geht hierbei weniger um die Beschreibung eines indifferenten Zustandes als um die Übersetzung dieses besonderen, unbestimmten Gefühls, das jeder kennt, der einmal eines der ehemaligen Vernichtungslager betreten hat. In der Regel läuft der visuelle Prozess genau anders herum. Beim Besuch eines der Lager fällt sofort die exakt gezirkelte Ordnung auf. „Nirgends findet das Auge das Unregelmäßige“, wie es Christian Graf von Krockow beschreibt.
Dazu sind die Gedenkstätten heute vor allem auch touristische Orte, an denen das Alleinsein mit den eigenen Empfindungen und Eindrücken kaum möglich ist. Man kennt die Bilder der Barracken, Wachtürme, Gaskammern, Krematorien, Rampen und das übrige Inventar der Lager aus Filmen, Büchern, Dokumentationen und eben den eigenen Besuchen. Es genügen wenige Andeutungen, auch in den Bildern von Till Leeser, um das ganze gespeicherte Programm in uns abzurufen. Aber für all diejenigen, die keine  Traumatisierung und kein persönliches existenzielles Leid erfahren haben, zielt das Erinnern vor allem auf das Schockerlebnis, dass dieser unermessliche Kulturbruch von einem vermeintlich zivilisierten Deutschland ausgehen konnte – ein unerträglicher Makel, der uns bis heute an unserem Land leiden lässt, weil wir instinktiv wissen, dass diese Schuld nicht zu sühnen ist.
„Auschwitz bleibt unüberwindlich, eine Wunde, nur oberflächlich geheilt durch öffentliche Trauerarbeit bei den üblichen Kondolenzfeiern,“ schreibt Evelyn Finger folgerichtig in ihrer in der ZEIT veröffentlichten Kritik zu dem beeindruckenden Thalheim-Film »Am Ende kommen Touristen«, der unseren Umgang mit Auschwitz thematisiert.
Die »Displaced Memories« veranschaulichen die ganze Tragik. Till Leeser nennt es die beunruhigende Unschärfe. Die Verschwommenheit der Bilder ist ebenso Ausdruck für die persönliche Unsicherheit, für das »Unsägliche« wie für die »Gefahr des Verschwindens und Vergessens«. In der zerfasernden Kontur deutet sich die  komplette Auflösung der Form an. Man muss die Bilder nicht erklären, um zu spüren, dass das stilistische Werkzeug der Unschärfe gezielt eingesetzt worden ist, weil es keine klare Zuordnung und Beschreibung geben kann. Till Leeser versteckt sich nicht hinter dem lakonischen Blick der reinen Dokumentarfotografie. Er riskiert etwas. Sein ungewöhnlicher Versuch ist ein vielschichtiges Statement, das man in verschiedene Richtungen interpretieren und diskutieren kann. Es ist nicht zuletzt signifikanter Ausdruck der eigenen Unzulänglichkeit und des Zweifels, dem Unaussprechlichen einen Namen zu geben. Er gesteht freimütig, dass der Besuch der Lager eine große Traurigkeit in ihm auslöst. Und das ist  genau der Moment, der für uns alle so authentisch ist. Unsere persönliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist mit den Tantalus-Qualen vergleichbar. Wir finden keine Erlösung. Die Dinge weichen zurück.
Der Falle der Ästhetisierung entkommt der Till Leeser durch die latente Bedrohung und Beklommenheit, die von den Bildern ausgeht. Albtraumgleich münden die schwarzen Fluchten in dunklen Löchern. Es sind keine Orte der Hoffnung. Das Licht, das hier und da durch Öffnungen quillt, scheint von der Dunkelheit herausgepresst zu werden. Die  Bilder haben eine überwältigende Präsenz, die in ihrer Reduktion auf fast reine Form  die Dichte der Erfahrungen und Empfindungen nachzeichnen und so zu gültigen Metaphern für das »Unermessliche« werden.

Rainer Danne
Städtische Galerie Kunstverein Iserlohn


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